Das Phänomen kennen viele Menschen: Man wacht nachts mit Appetit auf, wankt schlaftrunken in die Küche und isst einen Happen. Das muss kein Problem sein, so lange man das nicht ständig tut und darunter leidet. Der amerikanische Psychiater Albert Stunkard beschrieb erstmals 1955 regelmässiges nächtliches Essen als Night Eating Syndrom und legte drei Hauptkriterien fest: Die Betroffenen schlafen schlecht, nehmen mindestens ein Viertel ihrer Nahrungsmenge spätabends oder nachts zu sich und haben am nächsten Morgen keinen Hunger. In den vergangenen zehn Jahren untersuchten weit mehr als 70 Studien die biologischen Hintergründe des Phänomens. Grundlegende neue Erkenntnisse brachten sie nicht. «Die Erforschung des NES steckt bis heute in den Kinderschuhen», schreibt Barbara Mühlhans, die am Uniklinikum Erlangen eine Studie dazu leitete, in der Zeitschrift «Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie». «Kaum aussagekräftige Untersuchungen» «Es gibt kaum grössere aussagekräftige Untersuchungen», bestätigt Alexander Balling von der Psychosomatischen Klinik Bad Bramstedt. Das Syndrom lässt sich deshalb so schwer analysieren, weil es in einer Grauzone verschiedener Störungen liegt, die sich überlappen. «Das Night Eating Syndrom fällt durch das konventionelle Raster», sagt Balling. «Es bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Schlaf-, Ess- und affektiver Störung.» Obwohl viele Betroffene nachts aus dem Schlaf gerissen werden und überzeugt sind, ohne Stillen ihres Hungers kein Auge schliessen zu können, sprechen Forscher nicht von einer Schlafstörung. Und dass der nächtliche Heisshunger eine Essstörung ist, scheint ebenfalls fraglich. Denn tagsüber ernähren sich viele Betroffene ganz normal. Mühlhans schätzt, dass ein bis zwei Prozent der Bundesbürger an dem Problem leiden. Die Psychologin stiess - ebenso wie Stunkard - auf das Phänomen, als sie sich mit Übergewicht befasste. In einer Studie mit fettleibigen Frauen, die sich einer Magenverkleinerung unterzogen, gestand jede fünfte Frau nächtliche Ausflüge in die Küche. Scheinbar lassen sich korpulente Menschen eher vom Hunger den Schlaf rauben. Aber bei weitem nicht jeder Nachtesser ist dick. US-Forscher um Kelly Allison von der Universität von Pennsylvania in Philadelphia schlagen im «International Journal of Eating Disorders» Kriterien vor, um das Night Eating Syndrom klar zu definieren. Demnach ist betroffen, wer entweder seit mindestens drei Monaten mehr als 25 Prozent seiner Nahrung nach dem Abendessen einnimmt oder mindestens zwei Mal pro Woche nachts zum Essen aufsteht. Hoher Leidensdruck Zudem müssen sich die Betroffenen der Episoden bewusst sein - im Gegensatz zu Schlafwandlern, die auf ihren nächtlichen Streifzügen auch Ungeniessbares wie Zigaretten verzehren, sich daran am nächsten Morgen aber nicht mehr erinnern. Zudem darf das Verhalten nicht von einer anderen Erkrankung herrühren, und es muss ein Leidensdruck bestehen. Dieser Leidensdruck basiert manchmal auf einer deutlichen Zunahme des Körpergewichts, oft aber auf Tagesmüdigkeit und Reizbarkeit, die aus dem unterbrochenen Schlaf resultieren. Für andere ist schlicht das Gefühl unerträglich, den nächtlichen Hungerattacken hilflos ausgeliefert zu sein. «Mich wundert, dass das mit mir geschieht», umschreibt Balling den Eindruck vieler Nachtesser. Von einem eigenen Krankheitsbild zu sprechen hält der Arzt für verfrüht. Die Ausprägung hänge extrem vom Einzelfall ab, sagt er. Auch der Verlauf sei sehr unterschiedlich. Bei manchen Menschen verschwinde die Gewohnheit wieder, bei anderen chronifiziere sie mit den Jahren.

«Die Patienten wollen eine pragmatische Lösung» «Häufig steht hinter dem Verhalten Stress», glaubt Balling. Manchmal genüge schon ein Coaching im Stressmanagement. Das helfe den Betroffenen, Belastungsfaktoren bewusst wahrzunehmen und damit umzugehen. Andere Menschen suchen eine umfassendere Behandlung. Zwar könnten moderne Antidepressiva in manchen Fällen die Symptome bessern, so Balling. Nach dem Absetzen kehre das alte Verhalten aber oft wieder. Hilfreicher sei eine Psychotherapie. Der Arzt rät zu einer Verhaltenstherapie. Diese strebe mit Selbstbeobachtung, strukturierenden Massnahmen und der Veränderung von Einstellungen eine rasche Besserung an. Balling: «Die Patienten leiden und wollen eine pragmatische Lösung.»

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