Stützende Begründung in Epikurs "Brief an Menoikeus"?

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Die Begründung, die Epikur im Brief an Menoikeus gibt, gibt, steht in dem Abschnitt, der von Begierden, Lust und glückseligem Leben handelt (127 – 132).

1) Lust ist etwas Natürliches, sie wird als ein erstes und angeborenes Gut (ἀγαθὸν πρῶτον καὶ συγγενικὸν 128) erkannt. Epikur legt dies in dem Brief nicht eingehender dar. Gedacht werden könnte beispielsweise an Beobachtung, wie Kinder ganz früh, also wohl ohne möglicherweise verfälschende Einflüsse auf Natur beruhend, etwas Lustvolles erstreben.

2) Lust (ἡδονή) ist allgemein Anfang/Ausgangspunkt und Ende des glückseligen Lebens. Das Streben, das das sich in jedem Wählen und Meiden ausdrückt, beginnt mit der Lust und wir enden bei der Lust, indem wir jedes Gut mit der Empfindung (πάθος) als Maßstab (κανών) beurteilen (ὡς κανόνι τῷ πάθει πᾶν ἀγαθὸν κρίνοντες 129).

3) Glückseligkeit ist ein Gut. Und wie Epikur in dem Brief etwas vorher in einem anderen Zusammenhang als Grundsatz erklärt, ist jedes Gut und Übel in der Wahrnehmung/Empfindung (πᾶν ἀγαθὸν καὶ κακὸν ἐν αἰσθήσει 124). Dies bedeutet, daß ein Gut oder Übel, das ich nicht als Gut bzw. Übel empfinde, für mich nicht vorhanden ist. Bei diesem Empfinden liefert die Sinnlichkeit mit Gefühlen der Lust und der Unlust/des Schmerzes/des Leidens die unmittelbaren, ursprünglichen Wertungen. Eine Empfindung, die einen positiven Wertcharakter trägt, wird Lust genannt. Warum ein Zustand als Lust empfunden wird, ist nicht über die Tatsache solchen Empfindens ableitbar, sondern eine Gegebenheit der Sinnlichkeit.

4) Epikur vollzieht eine Ineinssetzung von Lust (ἡδονή) mit einem Zustand der Seelenruhe, der Ataraxie (ἀταραξία; „Unerschütterlichkeit“). Epikur beginn in seiner Darlegung mit der Gesundheit des Leibes und mit der Seelenruhe (ἀταραξία) und erklärt dies für das Ziel/den Endzweck/die Erfüllung/die Vollendung (τέλος) des (glück)seligen Lebens. In diesem angenehmen Zustand des Wohlbefindens besteht kein Mangel, da keine unbefriedigten Wünsche vorhanden sind. Es gibt nichts, was noch zusätzlich zu erstreben ist. Dies wird dann an der Lust erläutert und begründet.

Epikur, Brief an Menoikeus 128 – 129:
„Eine unbeirrte/unverwirrte Betrachtung dieser Dinge weiß jedes Wählen und Meiden zurückzuführen auf die Gesundheit des Körpers/des Leibes und die Ruhe der Seele, weil dies das Ziel/der Endzweck des seligen Lebens ist. Darum/um dessentwillen nämlich tun wir alles: damit wir weder Schmerzen noch Aufregung/Verwirrung/Beunruhigung/Beängstigung haben. Sobald aber einmal dies an uns geschieht, legt sich aller Sturm der Seele, da es für das Lebewesen nichts mehr zu erstreben gibt, das ihm noch mangelte, und nichts mehr zu suchen, durch das das Gut der Seele und des Körpers erfüllt würde. Dann nämlich leiden wir Mangel/Bedürfnis an Lust, wenn wir aus der Abwesenheit der Lust Schmerzen haben; [wenn wir aber keine Schmerzen haben], entbehren wir der Lust nicht mehr. Und deswegen nennen wir die Lust Anfang und Ende des seligen Lebens.

Denn diese haben wir als erstes und angeborenes Gut erkannt, und mit ihr fangen wir alles Wählen und Meiden an, und bei ihr enden wir wieder, weil wir mit dieser Empfindung als Maßstab alles Gut beurteilen. Und eben darum, weil sie das erste und angebotene Gut ist, wählen wir auch nicht jede Lust, sondern es kommt vor, daß wir über viele Lustempfindungen hinweggehen, wenn für uns aus ihnen mehr/in größerem Ausmaß das Beschwerliche/Mißliche/Widrige/Unangenehme folgt. Wir halten auch viele Schmerzen für besser als Lustempfindungen, wenn uns auf das lange dauernde Ertragen der Schmerzen eine größere Lust nachfolgt. Jede Lust also, da sie eine uns angemessene Natur hat, ist ein Gut, aber nicht jede ist zu wählen/wünschenswert; wie auch jeder Schmerz ein Übel ist, aber nicht jeder muß natürlicherweise immer zu fliehen/ vermeiden sein.“

Ziel allen Handelns ist nach Epikur das gute Leben (εὐ ζῆν), das selige Leben (μακαρίως ζῆν) oder anders gesagt das Glück/die Glückseligkeit (die Eudaimonie [εὐδαιμονία]). Glückseligkeit ist das höchste Gut.

Die konkrete Bestimmung dieses Zustandes ist für Epikur die Seelenruhe (ἀταραξία) und die körperliche Schmerzlosigkeit (ἀπονία).

Ziel (τέλος) der Ethik (alles Handelns) im prägnanten Sinn ist nach Epikur die Lust (ἡδονή). Sie ist der naturgegebene Ausgangspunkt und das Ziel des (glück)sleigen Lebens (Brief an Menoikeus 128: καὶ διὰ τοῦτο τὴν ἡδονὴν ἀρχὴν καὶ τέλος λέγομεν εἶναι τοῦ μακαρίως ζῆν).

Dafür verweist Epikur (alle Quellen einbezogen) auf die allgemeine Beobachtung (alle Leute streben von Natur aus nach Lust, weil sie ein Gut ist, meiden den Schmerz, weil er ein Übel ist), beruft sich auf Wahrnehmung (αἴσθησις).und Empfindung (πάθος). Er hält die Gleichsetzung von oberstem Gut und höchster Lust für evident (Cicero, De finibus bonorum et malorum 1, 9, 29ff.; 3, 1, 3).

Bücher enthalten erklärende Darstellungen zu Ethik Epikurs insgesamt, z. B.:

Michael Erler, Epikur. In: Die hellenistische Philosophie. Erster Halbband (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Ueberweg. Völlig neu bearbeitete Ausgabe. Herausgegeben von Helmut Holzhey. Die Philosophie der Antike - Band 4/1). Herausgegeben von Hellmut Flashar. Basel ; Stuttgart : Schwabe, 1994, S. 146 – 170

Malte Hossenfelder, Epikur. Originalausgabe, 3., aktualisierte Auflage. München : Beck, 2006 (Beck'sche Reihe : Denker ; 520), S. 57 – 100

S. 62 - 63: „Solche Äußerungen belegen zumindest so viel, daß im Epikureismus der Hedonismus verbunden ist mit der Einsicht in das Ungenügen der Vernunft, die nicht in der Lage ist, einen absoluten Wert zu etablieren, weil sie Werte immer nur aus anderen ableiten kann und daher nie „zur Ruhe kommt“, sondern unweigerlich in einen unendlichen Regreß gerät. Sie kann (als formales Vermögen, würden wir sagen) keine originären Inhalte setzen und so auch nichts, das an sich selbst, „seiner Natur nach“ einen positiven oder negativen Wert hat. Daher läßt sich das höchste Gut rational nicht mehr begründen, sondern wir sind an die passive, rezeptive Sinnlichkeit verwiesen und müssen den letzten Wert als etwas Gegebenes hinnehmen, und das heißt, es ist die Lust.

Wenn man Epikurs grundlegenden Gedankengang in dieser Weise deutet, dann bekommt seine Philosophie einen nachvollziehbaren Zusammenhang, und es verschwindet insbesondere der Widerspruch in seiner Telosbestimmung, die ja einerseits die Lust, andererseits die Ataraxie nennt. Der dargelegte Gedankengang treibt nämlich Epikur dazu, den hellenistischen Glücksbegriff hedonistisch zu interpretieren. Wie wir gesehen haben, beinhaltet er Begriff den friedvollen Zustand der Gewißheit, daß alle eigenen Wünsche erfüllbar sind. Aber Epikurs Reflexion ist damit noch nicht am Ende. Er fragt sich, warum wir denn diesen Zustand der Zufriedenheit so solch bewerten, und er kommt zu dem Schluß, daß sich darüber nicht mehr sagen läßt, als daß wir ihn eben positiv empfinden und den gegenteiligen Zustand der Unzufriedenheit eher negativ. Warum dies so ist, läßt sich rational nicht mehr begründen, es ist eine Gegebenheit der Sinnlichkeit. Nun heißt eine positive Empfindung Lust, also ist der Seelenfrieden, die Ataraxie, Lust. Epikur kommt also auf folgerichtige Weise zum Hedonismus: Höchstes Gut ist die Glückseligkeit des einzelnen, diese besteht in der Ataraxie, diese ist Lust, also ist das höchste Gut Lust.“

Malte Hossenfelder, Die Philosophie der Antike 3 : Stoa, Epikureismus und Skepsis. 2., aktualisierte Auflage. München : Beck, 1995, S. 102 - 124

S. 104 – 105: „Natürlich stellt sich dann die Frage, warum Epikur die Lust überhaupt zum Telos macht. Ich meine, daß dies eine Folge seiner im Vergleich zu den Stoikern vorsichtigeren Einschätzung der eigenen Zwecksetzung des Menschen ist. Auch er geht von dem individualistischen Grundsatz aus, daß das Glück in der Erreichung aller Zwecke besteht, die man selbst will. Der Grundsatz ist bei ihm ausgedrückt in dem Satz, in dem die ganze hellenistische Innerlichkeit beschlossen liegt: „Alles Gut und Übel ist in der Empfindung (ἐν αἰσθήσει)“ (Men. 124). Der Satz besagt: Ein Gut oder Übel, das ich nicht als solches empfinde, dessen ich mir als eines solchen überhaupt nicht bewußt bin, das existiert auch nicht für mich, d. h. was für mich Wert und Zweck hat, kann nur ich allein entscheiden, es ist eine Folge meines eigenen, persönlichen Empfindens, so daß stets dieses, nicht äußere Verhältnisse welcher Art auch immer, das letzte Kriterium ist. Die besondere Gestalt der Epikureischen Philosophie könnte dann aus folgender Grundüberlegung hervorgegangen sein: Eudämonie ist der innere Friede, der mit der Gewißheit eintritt, daß alle selbstgesetzten Zwecke Wirklichkeit werden. Also darf man sich nur verfügbare Zweck setzen und muß alles Unverfügbare entwerten. Nun enthalten aber die Gefühle der Lust und Unlust unmittelbare Wertungen, die jedermann vollzieht und die er nicht vermeiden kann. Sie lassen sich in ihrer Unmittelbarkeit durch keine Vernünftelei beseitigen. Dieses gegeben Faktum läßt sich so erklären, daß die Vernunft als bloß formales Vermögen keine originären Inhalte setzen kann. Sie kann zwar einen Wert aus einem anderen ableiten, aber sie ist nicht in der Lage, ursprüngliche Wertungen zu vollziehen, die als Anfang und Grundlage der Ableitungen dienen könnten. Vielmehr gerät sie bei der Rückführung des einen Wertes auf den anderen in einen unendlichen Regreß, wenn ihr nicht irgendein absoluter Wert von anderer Seite vorgegeben wird. Das nun leistet die Sinnlichkeit. Sie liefert den Gefühlen der Lust und Unlust die ursprünglichen Wertungen, so daß unser Werten letztlich irrationaler Natur ist. Für das wertreduktionistische Programm des Hellenismus bedeutet dies, das man nicht einfach durch Vernunftentscheide alle verfehlt scheinendne Wertungen außer Kraft setzen kann. Man muß einen anderen, gemäßigteren Weg, einschlagen und seine ganzen Wertungen und seine ganzen Anstrengungen auf zwei Dinge konzentrieren. Zum einen muß man darauf achten, daß Lust und Unlust wenigstens die einzigen absoluten Werte bleiben, was insbesondere heißt, das die Vernunft nicht in Verkennung ihrer eigenen Möglichkeiten irgendwelche „Scheingrundwerte“ einführt. Zum anderen muß man sich bemühen, Lust und Unlust verfügbar zu machen.

Nimmt man dies als Ausgangspunkt Epikurs, wird seine Lehre nachvollziehbar. Zunächst ist klar, wie es überhaupt zum Hedonismus kommt. Wenn Lust und Unlust die einzigen absoluten Werte sein sollen, dann muß die Lust als das höchste Gut angesehen werden, die Unlust als das größte Übel. Sodann erhellt, warum die Lust mit der Seelenruhe und diese mit dem Freisein von Unlust gleichgesetzt wird. Denn als höchstes Gut muß die Lust das sein, worin die Glückseligkeit besteht. Nun ist aber für den Hellenisten die Eudämonie die innere Ruhe, die durch die Abwesenheit jeglicher Erregung durch unbefriedigte Wünsche definiert ist. Folglich muß die Lust in eben dieser inneren Ruhe bestehen, und die Erregung, deren Abwesenheit die Ruhe ausmacht, muß, als das größte Übel, die Unlust sein. D. h. Lust ist gleich Seelenruhe und damit Freiheit von Unlust. Diese Identifikation, die die Klassik immer abgelehnt hatte, mögen Epikur zwei Überlegungen erleichtert haben. Erstens mußte sich ein hellenistischer Denker ja fragen, weshalb den ein Mensch glücklich ist, wenn er seine Zwecke erreicht, und unglücklich, wenn er es nicht tut. Die Antwort konnte offenbar am Ende nicht mehr enthalten, als daß er die innere Ruhe des einen Falles eben positiv, die Erregung des anderen negativ empfinde. Das aber besagt, daß die Vernunft diese Wertungen nicht weiter begründen kann, sie somit irrational sind, und das bedeutet wiederum, daß sie aus der Sinnlichkeit stammen, auf die der eine Zustand angenehm wirkt, der andere unangenehm; es handelt sich also um Lust und Unlust. Demnach stößt jeder, der den hellenistischen Gedanken zu Ende denkt, wegen der Grenzen der Vernunft ohnehin irgendwann auf Lust und Unlust als Grundwerte. Zweitens bot die Gleichsetzung der Seelenruhe mit Lust die Möglichkeit einer positiven Glücksbestimmung.“

@Albrecht

Vielen Danke für die große Mühe, das muss ja Stunden gedauert haben :) Das ist mir wirklich eine große Hilfe!

Also noch einmal kurz und prägnant, da ich das ganze nur auf einer halben Seite darstellen soll:

Die stützende Begründung liegt also darin, dass die Empfindung, beziehungsweise die Sinnlichkeit der Maßstab ist, mit dem wir jedes Gut beurteilen. Denn wenn ich etwas schlechtes nicht als schlecht und etwas angenehmes nicht als angenehm empfinden würde, wäre es nicht existent.

Dann würde ich aus dem Text folgende Zeile zitieren: "(...),und auf sie greifen wir zurück, indem wir mit der Empfindung als Maßstab jedes Gut beurteilen."

Wie er es gemeint hat, weiß ich nicht. Ich kann dir nur sagen, wie ich es interpretieren würde:

"Lust" ist ja nicht alleine auf Sexualität begrenzt: Gelüste... Lebenslust... das was mich anzieht...

Dem zu folgen, was mich anzieht, ist erfüllend. Mich durch Gedankenkonstrukte, Überzeugungen, usw. davon abzuhalten, ist schmerzlich.

Folge ich meiner Lust (eben dem, was mir entspricht, mich anzieht), ist das "Glückseligkeit". Es ist der innere Antrieb, das was spontan aus meinem Herzen und Fühlen kommt, was aus meiner Tiefe aufsteigt.

Die "Schmerzen" der meisten Menschen rühren daher, dass sie dies gar nicht mehr wahrnehmen können, weil es von tausenden bewussten und unbewussten Gedankenkonstrukten (Moral, gesellschaftliche Normen, vermeintlichen Glaube/Wissen) so überlagert ist, dass sich bei allen inneren Regungen der Verstand dazwischen schaltet.

Ich stimme dir in Allem voll und ganz zu, so würde ich das auch interpretieren. Das Doofe ist eben nur, dass ich ein Zitat aus dem Text selbst brauche und ich diesen ganz bestimmten Absatz, den ich brauche, nicht finde...

@endofoblivion

Sorry, da ich nix dieser Art je gelesen habe, bleibt mir "nur" Eigeninterpretation .-)

In den Äußerungen zu dem, was anzieht ist einiges sehr ungenau und anfechtbar.

Bei dem Folgen steht vor der Lust eine Begierde/ein Begehren. Wieso dies und überhaupt alles, was auf irgendeine Weise anzieht, unbedingt und wie von selbst, immer und dauerhaft zu etwas Angenehmen und einem Höchstmaß an Lust führt, ist kaum nachvollziehbar. Da Menschen nicht vollkommen sind, können sie ja auch Irrtümern und einem Anschein unterliegen.

Epikur unterscheidet bei den Begierden, so zwischen natürlichen und leeren/nichtigem und bei den natürlichen zwischen notwendigen und nichtnotwendigen (z. B. Brief an Menoikeus 127). Rastlos nichtigen Begierden (von denen ja trotzdem eine Anziehung ausgehen kann) nachzulaufen, hält er für keinen passenden Weg zur Glückseligkeit.

Eine Deutung, was Epikur bei seiner These meint, steht in meiner Antwort.

@Albrecht

Lieber @Albrecht, auch wenn ich es nicht explizit erwähnt habe, gehe ich bei dieser Definition von einem wahren Menschen aus, einem Menschen, der geistig frei ist.

Dass diese Definition nicht greifen kann, solange ein Mensch nur auf seine Gedankankonstrukte und Überzeugungen re-agiert, demnach nicht fähig ist, aus seinem Innersten zu a-gieren, ist mir schon klar.

Wenn ich nur ersteren "Fall" annehme, brauche ich auch nicht zu unterscheiden, was Begierden betrifft...